27
Jul
2009

Ich bin süchtig

samstag abend, nach einem völlig verkorksten ulduar-1oer-run stand ich kurz mit einer zigarette auf dem balkon und hatte den radikalsten, heftigsten und ernüchterndsten aha-moment meines lebens.

es ist samstag abend, wohlige 25 grad, vor dem balkon steht ein häufchen konzertbesucher, die letzten spätaufbrecher haben sich soweit aufgehübscht um sich ins nachtleben zu schmeissen - und ich stehe genervt, müde und frustriert im schwarzen zuhausekleidchen vollkommen abseits. mit jedem zug an der zigarette wurde mir klarer, dass dieses abseits einhundrtprozentig selbstgemacht ist, dass ich mich selbst in diese wehleidige position geschoben und einfach viel zu lange vollkommen absurde prioritäten in meinem leben geduldet habe.

steven johnson schreibt hier sehr schön, dass es das dunkle geheimnis von computerspielen sei, wieviel zeit man sich ärgernd mit ihnen verbringe - word! ich hocke mitten im sommer, in einer zeit in der man abends am rhein, im open air kino oder auf dem balkon einer guten freundin sitzen und sich sommerlich und jung und glücklich fühlen sollte, daheim vorm rechner und quäle mich mit neun leuten, denen ich und die mir eigentlich vollkommen egal sind, durch irgendwelche pixel... ja, ich weiss, dass das johnson-zitat komplett aus dem kontext gerissen ist und auch eigentlich etwas anderes meint, aber trotzdem ist es so, dass ich seit mindestens einem viertel jahr keine rechte freude mehr an wow habe. ich logge ein, weils eben zu einem abend nach der arbeit dazugehört und nicht, weil ich noch sonderlich viel spaß hätte. ja, aber die vielen tollen leute und freunde, die man online hat und die auf dich warten - mag vielleicht der eine oder andere dagegenhalten. klar, man loggt ein und der bildschirm wird komplett grün und rosa - alle sagen hallöchen, fragen ob man dies oder jenes mitmacht, insistieren wegen eienr raidanmeldung oder bitten zum plausch ins ts - und dann? dann vergammelt man einen weiteren abend in diesem unsäglichen spiel, tratscht und klatscht, farmt nebenbei ein paar heros oder einen titel und fühlt sich dazugehörig. ja, man gehört dazu - zu einer gemeinschaft von menschen, mit denen dich nichts anderes verbindet als der umstand, dass du an einem verdammten samstag nichts besseres zu tun hast, als deinen scheisschar zu optimieren oder einen pixelhaufen umzuhauen.

deine freunde haben vielleicht am donnerstag oder freitag angerufen und gefragt, ob du am samstag nicht dieses oder jenes machen möchtest - und du hast abgeiwegelt, irgendetwas von einem faulen wochenende und erholung gemurmelt. und natürlich verstehen deine freunde das und geben sich mit einem kurzen telefonat zufrieden - bleibt nur die frage, wie lange noch. wie lange rufen sie noch an und fragen, wie lange kommen noch einladungen, liebevolle mails und wie lange hält eine freundschaft das aus? die flüchtigeren beziehungen sind längst zerbröselt, die weniger innigen bindungen haben den konkurrenzkampf gegen deinen raid verloren - die kollegin, mit der du seit jahren sonntags ins kino gehst und vorher bei pizza und bionade die woche revue passieren lässt, tut das eben jetzt mit jemand anderem. der freund, mit dem du samstags um die häuser ziehst, geht jetzt mit anderen leuten tanzen und wenn dein partner dich sonntag morgens beim frühstücken fragt: gehst du samstags gar nicht mehr aus?, dann wirst du aggressiv und ein stückchen zu laut - weil du weisst, dass er recht hat. weil du weisst, dass du die bekannten und kollegen verstehst, die irgendwann resignierend aufgegeben haben, dich an einem sonntag oder montag oder dienstag oder donnerstag zu irgendetwas überreden zu können.

und das alles prasselte dann am samstag auf mich ein und verdichtete sich schlagartig zu der erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann und darf. dass sich in diesem sommer entscheidet, ob du noch einmal die kurve kriegst oder im winter allein vor deinem plätzchenteller hockst und nur eine handvoll neujahrsgrüße bekommst.

die erkenntnis ist keine besonders schöne, besonders weil sie sich so tief in deinen alltag vergraben und verwurzelt hat. früher hast du relaxt auf dem sofa gelegen und das spielfilmprogramm ab 22.00 konzentriert verfolgt - heute läuft der fernseher im rücken und liefert hörspiele, denen du nicht folgen kannst. beim einkaufen habe ich mich neulich dabei ertappt, wie völlig anders ich einkaufe, seit ich in einer raidgilde bin - in den 5 oder 10 minuten pipipause wird fix heisses wasser auf einen becher thainudeln gekippt, dazu einen pudding oder eine brezel, hauptsache möglichst pret a manger. das kinoprogramm geht an dir vorüber - früher bist du mindestens ein, manchmal zwei mal pro woche mit freunden in den neustarts der woche gewesen (was mir schmerzlich auffiel, als ich den trailer für den neuen harry potter gesehen habe, den ich noch vor einem direviertel jahr direkt am donnerstag mit b. gesehen hätte. jetzt ist es mir beinahe unangenehm mich dort zu melden und nachzufragen, ob wir nicht mal wieder....?)

vielleicht halte ich mich momentan noch auf einem gemäßigten suchtniveau auf: meine wohnung ist immernoch gut in schuss, ich verfette nicht und verfüge zumindest noch über so viel freundeskreis, dass wenn ich mich denn am wochenende mal entschliesse, nicht durchzuzocken, noch genügend leute da sind, die sich freuen etwas mit mir zu machen. trotzdem kann dieser umstand nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich seit einem halben jahr keinen sport mehr mache, deutlich weniger lese als früher (da kam nämlich jeden freitag ein amazonpäckchen fürs wochenende) und extremes cocooning betreibe.

die frage nach dem wofür kann man kaum wirklich ausblenden - auch wenn ich sie schwer beantworten kann. aber gehts wirklich nur um das best-in-slot-item an jedem platz? gehts darum sich dazugehörig zu fühlen? vermutlich eher letzteres, auch wenn paradox erscheint, eine intakte soziale nische, in der man integriert ist und gemocht wird, für eine andere aufzugeben. zumal beide definitiv nicht als gleichwertig zu betrachten sind: deine fl kommt wahrscheinlich eher selten auf die idee, dich spontan mit kuchen zu überfallen oder dich mal auf den flughafen zu fahren.

und nun steht natürlich eine entscheidung im raum. reicht es, die wow-zeit drastisch zu reduzieren oder wäre das wie der alkoholiker, der sich nur noch am wochenende mit einem gläschen wein belohnen will? wie detailliert begründe ich meinen komplettabschied, wenn ich ein weinerliches und hundertmal von doch-wieder-rückkehrern gelesenen "rl geht vor!"-posting vermeiden will, weil sie so erbärmlich und totschlägerig in ihrer argumentation sind? wie oft muss ich morgens in den spiegel schauen und zu meinem noch verschlafenen ich sagen: du bist wow-süchtig?
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